3 Fragen an Pierre Krähenbühl
Der Gast: Pierre Krähenbühl, Generaldirektor des
IKRK
Wird das Verbot des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten UNWRA durch Israel das IKRK zwingen, seine Dienste in den besetzten Gebieten auszuweiten?
Das UNWRA ist eine wichtige Organisation, die nicht ersetzt werden kann. Das IKRK hat nicht die Absicht, die Arbeit, die das UNWRA seit Jahrzehnten leistet, zu ersetzen. Das kann es auch nicht. Das IKRK und das UNWRA haben unterschiedliche Zuständigkeiten und Rollen. Die einzige Organisation, die die Arbeit des UNRWA leisten kann, ist das UNRWA. Der Wegfall dieser Unterstützung hätte schwerwiegende Folgen für die humanitäre Lage, die bereits katastrophal ist, besonders in Gaza. Das IKRK ist ernsthaft besorgt über die Folgen der jüngsten Entscheidungen bezüglich des UNRWA. Es spielt eine entscheidende Rolle für die Palästinenser in den besetzten Gebieten. Zudem wird das IKRK keine Gelder annehmen, die ursprünglich für das UNRWA bestimmt waren.
Weltweit nehmen die Konflikte zu. Hat das IKRK noch die Mittel, um an allen Kriegsschauplätzen zu helfen?
Wir beobachten eine Zunahme von Konflikten, die Bedürfnisse werden immer grösser. Das setzt die humanitären Akteure stark unter Druck. Es ist eines der Themen, über die wir uns bei der letzten internationalen Konferenz des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes ausgetauscht haben. Ich bin sehr stolz auf die Arbeit unserer Teams vor Ort, die in der Ukraine, im Sudan, aber auch in der Zentralafrikanischen Republik oder in Myanmar im Einsatz sind. Das IKRK hat ein klares Mandat und eine klare Daseinsberechtigung: Hilfe und Schutz für die Opfer von bewaffneten Konflikten und anderen Gewaltsituationen. Damit machen wir für Tausende von Betroffenen einen Unterschied. Und darauf werden wir uns auch weiterhin konzentrieren.
Sie sind schon sehr lange im humanitären Bereich tätig. Was fällt Ihnen an der Entwicklung der aktuellen Konflikte am meisten auf?
Zwei Dinge fallen mir besonders auf. Erstens habe ich das Gefühl, dass es heute weltweit keine Hemmschwelle mehr gibt. In Konfliktsituationen scheint alles akzeptabel zu sein. Wir befinden uns an einem schwindelerregenden Abhang, und eine Handbremse scheint es nicht mehr zu geben. Angesichts dieser scheinbar grenzenlosen Fähigkeit der Menschen, anderen Menschen Leid zuzufügen, hält sich die Empörung in Grenzen. Andererseits stelle ich mit Besorgnis fest, dass es an politischem Willen fehlt, um bewaffnete Konflikte zu verhindern oder zu lösen. Mir fällt auf die Schnelle kein Konflikt ein, der in den letzten zehn Jahren durch eine politische Einigung beendet wurde. In dieser extrem polarisierten Welt neigen einige dazu, politischen Mut als die Weigerung zu definieren, mit der Gegenseite zu sprechen. Mit einer solchen Haltung wird es uns niemals gelingen, gemeinsam Lösungen zu finden, um Konflikte zu verhindern oder zu beenden und dem unermesslichen Leid, das sie verursachen, ein Ende zu setzen.